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Ein offener Brief.
Warum weinen nicht nur okay ist, sondern uns stärker macht
Liebe Hormone,

 
wir müssen reden. Wie lange sind wir jetzt zusammen… so 16, 17 Jahre? Ich weiß, wir hatten wirklich tolle Zeiten, aber ich kann nicht mehr, ich bin am Ende, so geht es nicht weiter.
 
Im Klartext: Ihr geht mir uff’n Sack.

Manchmal treibt ihr mich einfach in den Wahnsinn, warum macht ihr das bloß? Was kann euch daran liegen, mich so fertig zu machen? Zum Beispiel, wenn ihr mich in eine Heißhungerattacke zwingt, aus der absolut kein Entkommen  möglich ist. Ganz egal, wie spät es ist, ihr peitscht mich dazu, meine Jogginghose durch straßentaugliche Klamotten zu ersetzen, (was eigentlich in Anbetracht der fortgeschrittenen Uhrzeit schon Fauxpas genug wäre), meinen aktuellen Aufenthaltsort, bevorzugt die Couch, zu verlassen und mich auf den Weg zur nächsten Tanke zu machen, um dort völlig überteuert eine Tafel Rittersport Vollnuss zu kaufen und diese dann in grob geschätzt drei Atemzügen zu verschlingen. Nicht nur, dass mir danach schlecht ist, nein, wenn das so weitergeht muss ich auch mein Abo im Fitnessstudio aufstocken oder mir meine gesamte Garderobe nochmal in Konfektionsgröße „doppelt so groß“ zulegen.

 
Oder diese leidliche  Sache mit den Stimmungsschwankungen. Manchmal reicht ein Lied, ein Duft oder sogar ein noch so dämlicher Werbespot, um mich in Sekundenschnelle in ein mickriges Häufchen Elend zu verwandeln, das sich zusammenkauert, wie ein Schlosshund heult und vor Schluchzen kaum noch Luft bekommt. Dann, eine halbe Minute, ein online bestelltes paar Schuhe und einen Schokopudding später habt ihr genug davon und leitet die schnellstmögliche Genesung ein. Was bleibt ist nur ein Anflug schlechten Gewissens aufgrund der hastig verschlungenen Schokoladensünde und gegenüber meinem Konto, welches mal wieder einer bis auf den letzten Tropfen ausgequetschten Zitrone gleicht.

 
Als wäre das noch nicht genug, veranlasst ihr, dass aus mir ein in den höchsten Tönen vergnügt quietschender Flummi wird, sobald auch nur ein Hundewelpe, ein Katzenbaby oder der Nachwuchs sonstiger Lebewesen, Menschen eingeschlossen, mein Blickfeld kreuzt. Aus mir, einem im normalen Leben durchaus rationalen Mädchen – jawohl, das bin ich! – wird also einsfixdrei ein flachsiges Gehopse, welches nur noch wohlige Gurrlaute von sich geben kann und den Minis völlig sinnlose Fragen stellt, die offensichtlich von keinerlei Nachwuchs in irgendeiner Art und Weise beantwortet werden können. Was ich auch weiß. Mich aber nicht sonderlich stört.

 
Eine ganz andere und wirklich auch ärgerliche Sache ist eure Eifersucht. Klar, ich kenne diese Angst, verlassen zu werden, wer kennt die nicht? Aber verdammt noch mal glaubt mir doch endlich, dass ihr da bei mir keine Angst haben müsst!  (Schon, weil ich gar nicht anders kann, als bei euch zu bleiben!)

 
Mal ehrlich, es ist immer doch wirklich immer das gleiche! Kaum finde ich einen Typen auch nur ansatzweise interessant, dreht ihr völlig auf und macht, dass ich mich unsterblich in ihn verliebe. Sofort. Mit Anlauf. Und ich kann gar nichts dafür (oder dagegen), ihr bestimmt das einfach so und ich bin euch ausgeliefert. Wenn ihr dann aber merkt, dass ich glücklich bin, und aus der Sache was Ernstes zu werden scheint, zieht ihr alle Notbremsen und lasst mich schön gegen die Wand laufen. Ihr habt die allergrößte Freude dabei, mich, meine Laune und meine Äußerungen zu steuern und macht in kürzester Zeit aus mir einen pöbelnden Drachen, vor dem jeder noch so tapfere Ritter einfach Reißaus nehmen muss, wenn ihm sein Leben lieb ist! Und statt mir danach über den Verlust hinweg zu helfen, ihr garstigen Biester, macht ihr mich dann zu einem reumütigen, sich in Tränen auflösenden Jammerlappen, welcher sich, ginge es nach der Menge der Flüssigkeit, die er zu produzieren im Stande ist, auch durchaus zum Wässern afrikanischer Felder in der Trockenzeit eigenen würde.

 
Freunde, wie gesagt, ich bin es leid und kann nicht mehr, ich hab einfach keine Lust mehr, mich von euch behandeln zu lassen, als wäre ich eure Marionette. Und da wir noch gut 15, 20 gemeinsame Jahre vor uns haben, muss sich da auch was ändern. Bitte, bekommen wir das hin?
 
Ach ja, vermutlich wäre es besser, würdet auch ihr ein wenig an euch arbeiten und euch gefälligst zusammenreißen. Sollte ich nämlich merken, dass ihr gar nicht gewillt seid, mir auch nur ein klitzekleines bisschen entgegenzukommen, dann trete ich einfach ins Kloster ein und lebe fortan in Keuschheit. Mal sehen, ob ihr das dann auch noch so lustig findet…

 
Also, liebe Hormone, ich freu mich auf unsere gemeinsame Zeit, und ich hoffe, wir schaffen das.
 
 
Ich hab euch sehr lieb.
 
Eure Judetta

Liebst,

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5 Kommentare

  1. Guter Beitrag zum Thema Stillen. Interessant, dass ihr 1000 Tage gestillt habt und die ersten 14 Tage du ununterbrochen an der Milchpumpe gehangen hast. Ich erwarte gerade auch mein erstes Kind, deshalb überlege ich, welche Milchpumpe ich mir zulegen soll.

  2. Liebe Judith, wie schön du es geschrieben hast, du sprichst mir aus dem Herzen! Ich stille nun seit 19 Monaten, egal wo ich bin, Familie, Freunde oder Fremde, stets muss ich mich rechtfertigen. Mein kleiner Mann ist sehr sensibel und bekommt so seine Sicherheit. Bin gespannt, wie lange wir diese „Still-Reise „ noch machen und solange Genies Ich noch die gemeinsame Nähe. Danke für die schönen Zeilen ❤️

    • Und ich danke dir für diesen lieben Kommentar, ich freue mich wirklich sehr darüber! Alles Liebe für euch!

  3. Liebe Judith, ich bin über deinen Abstillbericht gestolpert und wollte ein paar Worte hier lassen. Ich habe meine Jüngste, jetzt 4,5 Jahre alt, bis zum 4. Geburtstag gestillt. Und sie war echt noch süchtig. Sie ist ein picky eater und seitdem ernährt sie sich von 8-10 Lebensmitteln, zu denen nicht unbedingt Obst und Gemüse gehören. Das hat mich schon mehr gestresst als das Stillen. Und die unbeteiligten Beobachter hatten mir doch prophezeit, dass das Kind „nach dem Abstillen endlich essen wird“. Tut sie nicht. Und ich bedauere immer noch, gegen den Wunsch meiner Tochter abgestillt zu haben, sie ist seitdem viel häufiger und schwerer krank mit sehr hohem Fieber bei allen möglichen Keimen.
    Jedenfalls, du siehst, ich hadere nach einem guten halben Jahr immer noch und wünsche mir, dass jede Frau selbst bestimmen darf, ob und wie lange sie stillt. Ohne ungewollte Kommentare von völlig Unbeteiligten. Die einzigen, die es – wie bei euch beiden – regeln müssen, sind Mutter und Kind. Ich hoffe, dein Beitrag macht Müttern Mut, ihrem Bauchgefühl zu vertrauen.
    Liebe Grüße, Steffi

    • Liebe Steffi, tausend dank für deinen lieben Worte und das Teilen deiner Erfahrung. Hach, wenn es doch nur leichter wäre, auf das eigene Bauchgefühl zu vertrauen und sich nicht von den Worten anderer beeinflussen zu lassen, oder? Niemand steckt in deinen Schuhen, deiner Lage, kennt deine Familie so gut wie du selbst. Daher hoffe ich mit dir, dass viele Mütter (und Eltern) da draußen es schaffen, ein bisschen mehr auf die eigene Stimme zu hören.

      Alles Liebe für euch,
      Judith


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